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Überleben im Sturm der Trauer

Wenn das Unvorstellbare eintrifft

​Der Verlust eines Kindes während der Schwangerschaft und Geburt ist immer noch ein Tabu-Thema. In einer Welt, in der medizinisch fast alles machbar erscheint, scheint es unmöglich, dass ein Kind stirbt. Doch sobald Leben entsteht, ist auf der anderen Seite der Tod. Akzeptieren zu müssen, dass wir nicht alles in unserer Hand haben, fällt schwer und so schweigen wir lieber darüber. Dieses Tabu macht Eltern in ihrer Not noch einsamer.

Das eigene Kind zu verlieren, lässt die betroffenen Eltern mit einem tiefen Gefühl der Trauer und Unfassbarkeit zurück. Die Lebensordnung stimmt nicht mehr und die Tage sind verbunden mit Chaos und Unwirklichkeit. Ein Zitat aus einem Buch einer betroffenen Mutter beschreibt dies eindrucksvoll: „Die Betroffenen haben das Gefühl, dass ihr Leben zugeschlagen wurde wie ein Buch, in dem sie eben noch entspannt gelesen haben.“

 

Erschütterte Lebensordnung

Was bedeutet es, ein Kind in der Schwangerschaft zu verlieren, ein Kind, das seine Füsse noch nicht auf diese Erde gesetzt hat, ein Kind, das man als Menschen in dieser Welt noch nicht gekannt hat? Betroffene Eltern hören nicht selten Worte wie: „Sei froh, dass es jetzt passiert ist, ihr habt es ja noch nicht gekannt“ oder erhalten die Wünsche, dass die Trauer bald vorüber sein möge. Diese Worte, tröstend gemeint, tun weh. Dem Umfeld ist oft nicht klar, was der Tod eines Kindes für das weitere Leben der Eltern bedeutet. Das Kind ist bereits Teil ihres Lebens und ihrer Zukunft. Sobald eine Frau weiss, dass sie schwanger ist, geht sie den Weg des Kontinuums Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett, Eltern/Familie sein. Kontinuum bedeutet, alles auf diesem Weg ist angelegt für ein Leben mit diesem Kind, Pläne werden geschmiedet, umgesetzt, erfreut und erhofft mit diesem Kind. Sie haben den Menschen in ihrem Umfeld von dem kommenden Kind erzählt. Sie waren von Beginn an Mutter, Vater, ältere Geschwister.  Sie haben es bereits in den Monaten der Schwangerschaft in ihren Herzen und gedanklich in ihren Armen getragen. Voller Freude, Stolz und Hoffnung. Und dann kommt alles anders – in diesem Moment zerschlägt sich alles.

 

Überleben im Sturm der Trauer

Manchmal werde ich von Menschen gefragt, ob es denn nichts Tröstliches zu sagen gäbe, etwas, damit es „zum Schluss“ doch wieder „gut“ ist. Aushalten, dass dieser Aspekt im Leben betroffener Eltern nicht wieder gut wird, dass diese Wunde bleibt, dieses Kind immer fehlen wird, das ist sehr schwierig.

Seit vielen Jahren darf ich Eltern nach dem Verlust ihres Kindes ein Stück auf ihrem Weg begleiten. Ich habe vor allem von den Eltern viel gelernt und erfahren, und diese Erfahrung darf ich an weitere Betroffene weitergeben. Ich würde das Weiterleben so beschreiben:

Am Anfang – und wie lange dieser Anfang dauert, ist sehr unterschiedlich – befinden sich die Eltern in einem kleinen Boot auf tosendem Meer. Und sie müssen schauen, wie sie dieses kleine Boot sicher durch den Sturm bringen. Und dann wird eine Zeit kommen, in der die Wellen etwas sanfter sind, wo am anderen Ende ein Licht oder vielleicht gar etwas Land gesehen werden kann. Sie steuern darauf zu, sehen eine Perspektive, eine Zukunft. Dann kommt der nächste Sturm, und sie sind wieder mittendrin im reinen Überleben. Doch mit der Zeit werden die Wellen sanfter, so habe ich es in der Begleitung erfahren. Mit der Zeit wissen die Eltern, wie sie ihr Boot steuern können. Und sehr wichtig ist das Wissen, dass mit ihnen im Boot immer ihr verstorbenes Kind ist.

 

Einen festen Platz in der Familie

Es ist von umfassender Bedeutung, dem verstorbenen Kind einen Platz zu geben. Es zeigt, dass es die Kinder gab. Die Spur dieses Kindes ist im Kontinuum gelegt. Und so wird dieses Kontinuum weitergehen, solange die Eltern leben, die Geschwister und alle, die mit der Familie verbunden sind. So ist es auch bei Juliens Familie. In ihrem Leben hat Julien einen festen Platz. Er ist Sohn, Bruder, Enkelkind, Neffe, Cousin. Sie alle hatten bereits eine Vorstellung eines gemeinsamen Lebens mit ihm. Seine Eltern werden immer wissen, wann ihr Kind Geburtstag hat, wann es in den Kindergarten, in die Schule gekommen wäre, wann es erwachsen geworden wäre.

 

Sternenkinder hinterlassen ihre Spuren

Die Trauer bleibt ein Leben lang, doch sie wandelt sich. Trauer kann sich mit der Zeit in Stärke verwandeln. Aus dieser tiefen, schmerzvollen und lebensverändernden Erfahrung, ein Kind zu verlieren, entsteht nicht selten eine Kraft, aus der kreative Prozesse wachsen. Bücher werden geschrieben, Filme gedreht oder Podcasts aufgezeichnet. Und so hinterlassen Sternenkinder, wie Julien, ihre Spuren in unserer Welt: „Auch wenn deine kleinen Füsse die Erde nie berührten, sind deine Spuren trotzdem da…überall.“

 

Ein Artikel von Beatrix Ulrich, Hebamme/Trauerbegleiterin/ Beraterin im Psychosozialen Bereich OIP

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